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«Jugendliche treiben wieder mehr Sport»

Markus Lamprecht ist Sportsoziologe. Seine Studie «Sport Schweiz 2020: Kinder- und Jugendbericht» untersucht, warum, wie oft und in welchem Rahmen Kinder und Jugendliche Sport treiben. Im Interview räumt er auf mit dem Vorurteil der Jugend, die mehr Zeit am Handy als auf dem Sportplatz verbringt.

Markus Lamprecht, Sportsoziologe
Markus Lamprecht, Sportsoziologe und Autor von «Sport Schweiz 2020: Kinder- und Jugendbericht»

Markus Lamprecht, laut Untersuchungen wie dem GenZ-Report verbringen Schweizer Jugendliche durchschnittlich fast 5 Stunden pro Tag am Handy. Bleibt da überhaupt noch Zeit für Sport?

Ja, Zeit für Sport bleibt, zum Glück. Die Jugendlichen sitzen ja nicht fünf Stunden lang ununterbrochen am Handy, sondern das verteilt sich über den Tag und findet parallel zu anderen Tätigkeiten statt. Da bleibt Zeit für anderes, zum Beispiel für Sport. Aber es stimmt, Zeit ist eine knappe Ressource geworden für Jugendliche.

Ihre Studie zeigt ja tatsächlich, dass Jugendliche heute nicht weniger Sport treiben als früher, im Gegenteil.

Das stimmt. Die Zeit, die Jugendliche mit Sporttreiben verbracht haben, ging von 2008 bis 2014 zurück. Hätte sich dieser Trend fortgesetzt, dann hätten wir uns Sorgen machen müssen. Aber bei der Studie 2020 hat sich gezeigt: Jugendliche treiben wieder mehr Sport.

Entwicklung der Sportstunden von Jugendlichen von 2008 bis 2020
Sportaktivität der Jugendlichen ausserhalb des obligatorischen Sportunterrichts 2008 bis 2020 in Anzahl Stunden pro Woche

Sport ist also bei jungen Menschen ungebrochen populär. Warum ist das so? Welche Motivation treibt Jugendliche an?

Die wichtigsten Faktoren sind die Schule, das Elternhaus, der Freundeskreis und das Vereinsangebot in der Umgebung. Wenn dort Freude am Sport vermittelt wird, dann werden junge Menschen eher sportlich aktiv. Grundsätzlich unterscheiden sich die Sportmotive von Jugendlichen nicht wesentlich von jenen der Erwachsenen: Es geht um Gesundheit, Fitness und vor allem um die Freude an der Bewegung und am Spiel. Daneben auch um Gemeinschaft, Erlebnis, Entspannung – sowie auch um Leistung.

«Die Sportmotive von Jugendlichen sind die gleichen wie von Erwachsenen: Gesundheit, Fitness und vor allem die Freude an der Bewegung und am Spiel.»

Haben sich diese Motive über die Zeit verändert?

Diese Motive sind erstaunlich stabil. Es zeigt sich aber, dass das Wettkampf-Motiv zurückgeht. Dafür werden andere Motive wichtiger: Figur, Muskelaufbau, “Gut aussehen”. Daher auch der Boom beim Krafttraining. Aber insgesamt sind die Verschiebungen geringer als man erwarten würde.

In Ihrer Studie fällt auf, dass Mädchen und junge Frauen mehr Sport treiben als früher. Was sind die Gründe?

Das zeigt sich auch bei den Erwachsenen: Die Frauen haben die Männer eingeholt und treiben heute gleich viel Sport. Überhaupt hat sich der Frauensport enorm entwickelt. Das wirkt sich auch auf die Mädchen und jungen Frauen aus, denn die haben jetzt mehr sportliche Vorbilder und mehr Angebote. Das sehen wir besonders bei Mädchen mit Migrationshintergrund, die lange Zeit deutlich weniger Sport getrieben haben als ihre Altersgenossinnen. Diese Mädchen haben heute weniger Barrieren und mehr Möglichkeiten, um selbst Sport zu treiben.

Wie hat sich die Hitparade der Sportarten verändert? Sind bei Jugendlichen die gleichen Sportarten populär wie seit jeher oder gibt es neue Trendsportarten?

Natürlich tauchen immer wieder neue Sachen auf, aber die «Trendsportarten» wie Snowboarden oder Mountainbike sind mittlerweile auch schon über 30 Jahre alt. Nach wie vor ist Fussball bei den Jugendlichen sehr weit oben, dazu andere Klassiker wie Turnen oder Tanzen. Auch Velofahren, Schwimmen – in letzter Zeit auch Wandern – sind ungebrochen beliebt.

Es gibt – auch bei Jugendlichen – die Gruppe der Sport-Abstinenten. Können Sie uns etwas über deren Motive erzählen?

Die Inaktiven sagen meistens «keine Zeit oder keine Lust», das gilt für Erwachsene wie für Jugendliche. Interessanterweise könnten sich aber viele durchaus vorstellen, wieder sportlich aktiv zu werden. «Geborene Sportmuffel» gibt es relativ selten. Es gibt kaum Kinder, die von Anfang an gar keinen Zugang zum Sport finden.

Sprechen wir über die Sportvereine: In vielen Dörfern gab es früher die Wahl zwischen Fussballclub, Turnverein und Pfadi. Heute sind die Freizeitangebote vielfältiger denn je. Leiden die Sportvereine unter dieser Konkurrenz?

Es gibt zwar ein grösseres Sportangebot als früher, vor allem in den Städten und Agglomerationen. Aber gerade auf dem Land haben manche Vereine nach wie vor einen ganz hohen Stellenwert. Was sich verändert hat, ist die Vereinstreue. Eine lebenslange Karriere im Verein vom Junior zum Aktiven und dann zum Funktionär ist seltener geworden. Die Fluktuation ist heute viel grösser, Vereinswechsel haben stark zugenommen – und zwar schon im Kindesalter.

Kinder wechseln häufiger den Verein. Hat das einen Zusammenhang mit dem Eintrittsalter?

Kinder treten heute immer früher Sportvereinen bei, das ist ein sehr starker Trend. Ein Drittel der Kinder ist heute beim ersten Vereinseintritt jünger als sechs Jahre alt und somit deutlich jünger als früher.

«Ein Drittel der Kinder ist heute beim ersten Vereinseintritt jünger als sechs Jahre alt.»

Also je früher der Eintritt desto eher auch wieder der Austritt?

Genau! Weil das Angebot gross ist, steigt auch die Verlockung, mal etwas Anderes auszuprobieren. Wobei wichtig ist: Austritt bedeutet bei Kindern in den allermeisten Fällen nicht, dass sie keinen Sport mehr treiben. Sie wechseln einfach die Sportart, bleiben aber in einem Sportverein aktiv. Erst bei den Jugendlichen beginnt sich das zu ändern: Dort beobachten wir, dass ein Austritt aus dem Verein meist auch ein Austritt aus dem organisierten Sport ist.

Entwicklung Vereinsmitgliedschaften von 12 bis 20 Jahren
Vereinszugehörigkeit nach Geschlecht und Alter (Anteil der Jugendlichen, die Aktivmitglied in einem Sportverein sind, in %)

Wie können Sportvereine auf diese Entwicklungen reagieren?

Eigentlich ist es ja etwas Gutes, dass Kinder viele Sportarten kennenlernen und verschiedene Bewegungserfahrungen machen. Sportvereine versuchen das aufzufangen, indem sie ihre Angebote polysportiver gestalten. Wichtig ist auch die Koordination zwischen den Vereinen. Sie dürfen sich nicht als Konkurrenten sehen, sondern als Angebote, die sich ergänzen.

«Sportvereine dürfen sich nicht als Konkurrenten sehen, sondern als Angebote, die sich ergänzen.»

Wäre es denn überhaupt ein Problem, wenn Kinder weniger in Vereinen Sport treiben? Kann man nicht sagen: Hauptsache Sport, egal ob im Verein oder unorganisiert?

Vereine haben ausgebildete Leiterinnen und Leiter, darum ist die Qualität gesichert. Dazu kommt das Gemeinschaftserlebnis, das für viele sehr wichtig ist. Bei älteren Jugendlichen kommt dann das Engagement im Verein dazu. Im Verein nimmt man nicht nur teil, man engagiert sich auch. Dieses Engagement im Verein ist ein gesellschaftlicher und sozialer Wert, der über den rein sportlichen Wert hinausgeht.

Sie haben das Vereinsengagement von Jugendlichen ja auch untersucht. Wie entwickelt sich das?

Es ist sehr erfreulich, dass die Bereitschaft sich im Verein zu engagieren immer noch da ist. Es ist ein Vorurteil, wenn behauptet wird, Jugendliche wollten sich nicht mehr engagieren. Das zeigen auch andere Studien wie der Freiwilligenmonitor. Im Gegenteil: Das freiwillige Engagement im Sport ist sogar gestiegen, gerade bei jungen Frauen. Junge Männer sind zwar häufiger Mitglied in Sportvereinen, aber wenn es darum geht, ein Amt zu übernehmen, erweisen sich die jungen Frauen als sehr aktiv.

Zusammengefasst: Sportvereine sind nach wie vor sehr beliebt.

Vor allem bei den Kindern sind die Zahlen sogar noch gestiegen. 67 Prozent der 10- bis 14-jährigen Kinder sind Mitglied in einem Sportverein. Anteilsmässig waren noch nie so viele Kinder Mitglied in einem Sportverein wie heute. Bei den Jugendlichen und bei den Erwachsenen sieht es allerdings anders aus. Dort ist die Vereinsmitgliedschaft rückläufig.

Was machen Kinder und vor allem Jugendliche nach dem Vereinsaustritt? Machen sie keinen Sport, oder machen sie einfach anders Sport?

Bei Kindern ist es wie gesagt meist ein Wechsel in einen anderen Verein respektive in eine andere Sportart. Jugendliche verlassen eher den organisierten Sport und treiben nachher individuell Sport, gehen also beispielsweise in ein Fitnesscenter oder nutzen andere kommerzielle Angebote. Aber nur wenige Jugendliche hören wirklich komplett auf mit sportlicher Aktivität.

Was sind denn die Motive für Vereinsaustritte?

Am häufigsten sagen Kinder und Jugendliche, sie hätten die Freude am Sport oder an der jeweiligen Sportart verloren. Daneben spielt aber auch sehr konkret die Unzufriedenheit mit einem Trainer oder mit den Trainingsmethoden eine Rolle. Und dann hören wir oft von den Jugendlichen, sie hätten zu wenig Zeit oder zu viel Stress.

Woher kommt das?

Das Zeitbudget von Jugendlichen ist knapper als jenes von Kindern. Die schulischen und beruflichen Anforderungen steigen, da bleibt weniger Zeit für Sport und Freizeit. Wichtig ist auch: Die Wegzeiten nehmen zu, Jugendliche verbringen schon viel Zeit mit Pendeln zum Arbeitsplatz oder zur Schule.

Entwicklung der sportlichen Aktivitäten mit steigendem Alter von 12 bis 20
Sportliche Aktivitäten der Jugendlichen ausserhalb des obligatorischen Sportunterrichts nach Alter in Anzahl Stunden pro Woche 2020

Was würden Sie Vereinen raten, damit sie für Jugendliche attraktiv bleiben und sie im Verein behalten können?

Wichtig ist eine gute Koordination unter den Vereinen statt Konkurrenzdenken. Darüber hinaus sollte sich jeder Verein fragen, ob er richtig positioniert und ausgerichtet ist. Viele Vereine haben ein Interesse an gutem Nachwuchs und neigen darum dazu, die Talentiertesten zu fördern und das Angebot an diesen auszurichten. Aber es braucht auch Angebote für jene Jugendlichen, die etwas weniger Talent haben und eher Spass und Plausch suchen. Denn oft sind genau das die Personen, die dann später ein Ehrenamt im Verein übernehmen.

«Es braucht in Sportvereinen auch Angebote für jene Jugendlichen, die eher Spass und Plausch suchen.»

Zum Abschluss: Ihre Studie wurde vor Corona durchgeführt. Können Sie trotzdem etwas dazu sagen, ob die Pandemie das Sportverhalten von Jugendlichen beeinflusst hat?

Genaue Daten gibt es noch nicht, erst einzelne Fallstudien. Im Vereinssport konnten gewisse Angebote über längere Zeit nicht durchgeführt werden. Das hatte kurzfristig kaum Auswirkungen, aber mittelfristig könnte das die Absprungrate erhöhen. Am ehesten sehen wir Auswirkungen bei Sportangeboten, die etwas teurer sind. Dort überlegt man es sich zweimal, ob man das Abo bezahlen soll, wenn nicht klar ist, ob überhaupt Kurse stattfinden. “Profitiert” haben tendenziell Sportarten, die draussen stattfinden und bei denen es für Kinder und Jugendliche nur wenige Einschränkungen gab. Auf jeden Fall ist einiges in Bewegung gekommen und man darf gespannt sein, welches Fazit die Sportvereine in zwei bis drei Jahren ziehen. Aber eine Austrittswelle als Folge von Corona gab es bisher nicht.

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